Globaler Austausch aus dem WG-Zimmer?

Fokusthema: Internationale Bildung in Zeiten digitalen Wandels

  • Covid-19 hat die internationale Mobilität Studierender gebremst; der Wunsch nach Auslandsaufenthalten bleibt aber ungebrochen.
  • Im Coronajahr 2020 wurden 55 Prozent der Erasmus-Aufenthalte weiterhin regulär durchgeführt, 41 Prozent wurden verkürzt, verschoben oder vollständig abgesagt.
  • Die Pandemie bringt nachhaltige Digitalisierungsfortschritte: Auslandssemester werden durch digitale Lehrformate von zu Hause aus möglich, virtuelle Konferenzen sind inzwischen problemlos durchführbar und die virtuelle Prüfungsteilnahme an Heimathochschulen ist geplant.
  • Auch Onlinelernplattformen profitieren von der Pandemie und verzeichnen teilweise ein Wachstum von bis zu 50 Prozent.

Covid-19-Pandemie verändert internationale Mobilität nachhaltig

Die Covid-19-Pandemie hat die Hochschulen vor enorme Herausforderungen gestellt. Lehre, Forschung und Hochschulverwaltung mussten digital gedacht und umgesetzt werden. In Rekordzeit gelang es, eine funktionierende digitale Alternative zum analogen Studium anzubieten: In der Regel erfolgte die Umstellung flächendeckend innerhalb von nur 30 Tagen und wurde von Studierenden insgesamt als positiv bewertet.

Die internationale Mobilität von Studierenden und Forschenden war ganz besonders von der Covid-19-Pandemie betroffen. Im Sommersemester 2020 ging die Zahl der internationalen Studienanfängerinnen und -anfänger (1. Hochschulsemester) in Deutschland um fast 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr zurück und lag nur noch bei 22.830 (Statistisches Bundesamt 2021). Auch das Auswärtige Amt vermeldete einen überdeutlichen Rückgang der im Ausland beantragten Visa für einen Studienaufenthalt in Deutschland: 2019 waren es weltweit noch 72.243 Anträge, 2020 nur noch 43.722 — ein Minus von knapp 40 Prozent. Viele Auslandsvertretungen stellten zeitweise überhaupt keine entsprechenden Visa mehr aus.

Der Deutsche Akademische Auslandsdienst (DAAD) schätzte im Juni 2020, dass bereits rund 80.000 ausländische Studierende Deutschland aufgrund der Coronakrise verlassen hatten. Im Sommersemester 2020 haben laut DAAD 52 Prozent der Hochschulen Austauschprogramme teilweise oder ganz gestrichen. Auch die Zahl der deutschen Studierenden und Forschenden, die einen Studien- beziehungsweise Forschungsaufenthalt im Ausland wahrnehmen, ging pandemiebedingt stark zurück (DAAD).

Wie geht die Entwicklung nach den Erfahrungen der Coronakrise nun weiter? Aus heutiger Sicht werden vor allem drei Trends die internationale Bildung langfristig beeinflussen: Auslandssemester in Präsenz werden wieder an Bedeutung gewinnen, mit starkem Fokus auf interkulturellem Austausch. Die fachliche Internationalisierung wird durch die Digitalisierung und damit einhergehenden zusätzlichen Formaten gestärkt. Darüber hinaus gewinnen EdTechs, speziell Onlinelernplattformen, an Stellenwert und werden im Zusammenspiel mit den Hochschulen neue Synergien ermöglichen, beispielsweise mittels adaptiver Lernprogramme, die den Lehrenden eine Sicht darauf geben, bei welchen Inhalten eine Vertiefung notwendig ist.

Abnahme des internationalen Austauschs im Hochschulsektor (Grafik)

Trend I: Studienmobilität wird wichtiger für die Fachkräfterekrutierung

Der klassische Auslandsaufenthalt wird nach der Covid-19-Pandemie eine Renaissance erleben. Ein Indiz dafür: Trotz einer Bereitschaft von über 50 Prozent der europäischen Universitäten, digitale Auslandssemester ihrer Studierenden im Sommersemester 2020 anrechnen zu lassen, haben zumindest in Deutschland nur 1,5 Prozent aller Erasmus-Studierenden ein digitales Auslandssemester angetreten. Die Gründe hierfür sind individuell, aber viele Studierende möchten lieber "die besondere Erfahrung" vor Ort machen und hoffen auf ein baldiges Ende der Pandemie.

Was für deutsche Studierende im Ausland gilt, gilt auch für ausländische Studierende in Deutschland. Der Studienaufenthalt hierzulande gibt ihnen einen Einblick in die deutsche Kultur und die Möglichkeit, ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Dies ist unter anderem für die Fachkräfterekrutierung von zentraler Bedeutung. Insbesondere im MINT-Bereich ist der deutsche Arbeitsmarkt auf ausländische Studierende angewiesen, die sich nach dem Studium in Deutschland dazu entscheiden, hier auch den Berufsstart zu wagen. Viele der internationalen Studierenden sehen ihre Zukunft in Deutschland: 70 Prozent planen nach ihrem Studienabschluss in Deutschland zu bleiben, 41,1 Prozent können sich sogar vorstellen, fünf Jahre und länger zu bleiben. Wenn weniger ausländische Studierende nach Deutschland kommen, sinkt daher auch die Zahl derer, die hier ihren Berufsstart wagen.

 

Trend II: Fachliche Internationalisierung durch Digitalisierung

Hochschulen haben den durch die Covid-19-Pandemie herbeigeführten Digitalisierungsschub auch für die Internationalisierung des fachlichen Austauschs genutzt. So boten fast drei Viertel der Hochschulen ihren internationalen Studierenden die Möglichkeit eines Fernstudiums mit Onlineveranstaltungen an. Auch die meisten der sich speziell an internationale Studierende richtenden Unterstützungsmaßnahmen wie Welcome-Veranstaltungen und/oder Visaberatungen waren digital zugänglich. Dadurch konnte auf fachlicher Ebene ein internationaler Austausch sichergestellt werden.

Insbesondere beim internationalen Forschungsaustausch war die Umstellung auf digitale Formate erfolgreich. Noch nie war es so leicht, eine Expertin oder einen Experten aus Übersee für einen Fachvortrag in eine Vorlesung oder auf eine Konferenz einzuladen. Die Zahl der internationalen Vorlesungssäle ist gestiegen, auch die Curricula sind internationaler geworden.Internationale Forschungskonferenzen brachen Teilnehmerrekorde. Für Gruppen, die bisher unterrepräsentiert waren, verbesserten sich durch digitale Angebote die Teilnahmemöglichkeiten. In einer "nature"-Umfrage sprachen sich 74 Prozent aller einbezogenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für eine Fortführung digitaler Konferenzen nach der Covid-19-Pandemie aus.

Die positiven Erfahrungen mit digitalen Formaten werden Hochschulen mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu bewegen, den Einsatz digitaler Tools zu verstärken. Denkbar sind beispielsweise "gemischte" Hörsäle an zwei Standorten mit Interaktion zwischen den Studierendengruppen. Möglich wäre auch, in Curricula Inhalte ausländischer Universitäten einzubauen – quasi Ausland light direkt verfügbar im Heimatland. Dabei ermöglicht die Digitalisierung nicht nur ein größeres Angebot an fachlicher Expertise – sie erlaubt auch erhebliche Einsparungen bei Zeit, Kosten und natürlichen Ressourcen.

Internationale Studierende (Grafik)

Trend III: Online-Lernplattformen als zusätzlicher Lernkanal

EdTechs, die sich auf Online-Lernplattformen spezialisiert haben, profitieren von der Covid-19-Pandemie. Die Nutzerzahlen dieser EdTechs, die für jedermann zugängliche Onlinekurse anbieten, stiegen nach Schätzung von Class Central, einem Suchportal für Onlinekurse, zwischen 2019 und 2020 um 50 Prozent an. Und zwar – exklusive Zahlen des chinesischen Marktes – von 120 auf 180 Millionen. Auch das Funding für EdTech-Start-ups ist in Europa seit 2019 deutlich angestiegen, wobei Deutschland noch hinterherhinkt. Der Rest Europas (ohne Deutschland) kommt auf ein jährliches Wachstum seit 2019 von etwa 70 Prozent und ein Volumen von rund 1,4 Milliarden US-Dollar alleine in der ersten Jahreshälfte 2021. Die Wachstumsrate in Deutschland liegt allerdings nur bei 20 Prozent und einem Volumen von 107 Millionen US-Dollar.

Diese Entwicklung lässt sich auch für Onlineplattformen beobachten, die sich hauptsächlich mit tertiärer Bildung befassen. Einzelne Plattformen, wie beispielsweise Coursera – auf der Hochschulen Kurse einstellen –, konnten ebenfalls ein Jahreswachstum von mehr als 50 Prozent verzeichnen (Coursera 2020). Besonders stark stieg die Nachfrage in Wachstumsmärkten wie Asien oder Südamerika. Doch auch in Europa erhöhte sich binnen Jahresfrist die Zahl der Nutzer von Coursera um 48 Prozent auf 13 Millionen im Jahr 2020. Genaue Wachstumszahlen ausschließlich für den deutschen Markt sind nicht verfügbar.

Das Angebot von Online-Lernplattformen im tertiären Bereich wird immer attraktiver und kann eine Alternative zum Auslandssemester oder zumindest eine Ergänzung des Studiums darstellen. Coursera bietet inzwischen mehr als 30 vollwertige Abschlüsse von bekannten internationalen Universitäten wie dem Kings College oder dem Imperial College an. Das ist allerdings eher die Ausnahme als die Regel. Die Mehrheit der online verfügbaren Kurse ist eigenständig oder zusammengefasst in sogenannte Nanooder Micro-Degrees – eine Zusammenstellung einiger weniger Kurse, die keinen vollwertigen Hochschulabschluss darstellen. Dennoch: Einige Partnerhochschulen akzeptieren bereits die Zertifikate der Micro-Degrees und rechnen diese bei einer späteren Immatrikulation in einen passenden Studiengang auf die erbrachten Leistungen an.

Wachstum von Online-Lernplattformen (Grafik)

Handlungsempfehlungen

Die bisherige Entwicklung in und mit der Covid-19-Pandemie lässt vermuten, dass sich die Themen Internationalisierung und Digitalisierung künftig stärker überschneiden werden. Um die sich bietenden Möglichkeiten zu nutzen, müssen Digitalisierung und Internationalisierung in Zukunft gemeinsam gedacht und entsprechende Synergien genutzt werden.

  • Hochschulen sollten den internationalen fachlichen Austausch weiter digitalisieren und diesen Ansatz auch strukturell in Hochschulkooperationen verankern
    Dadurch kann die Internationalisierung deutlich vertieft werden, von gemeinsamen Seminaren und Projektarbeiten mit Studierenden aus dem In- und Ausland bis hin zur Möglichkeit, virtuell an Prüfungen teilzunehmen, um beispielsweise auch während eines Auslandspraktikums an der Heimathochschule Credits sammeln zu können. International Classrooms mit Partneruniversitäten sollten zum Regelfall werden. Dazu gehört auch, dass Heimathochschulen ausländische Onlinekurse anerkennen. Besonders eignen sich hierfür neue Mobilitätsverbünde, in denen Studierende gleichzeitig bei allen Mitgliedshochschulen eingeschrieben sind und ihre Lernleistungen im Verbund automatisch anerkannt bekommen.
  • Hochschulen sollten sich noch mehr für digitale Innovationen öffnen und über Kooperationen zum Beispiel mit etablierten EdTechs leistungsfähige Learning-Experience-Plattformen (LXP) aufbauen, die beispielsweise adaptive Lerninhalte bieten (Inhalte, die sich an den spezifischen Wissensstand des Lernenden anpassen)
    Beispiele wie die digitalen Lernplattformen Area9 und Minerva zeigen, dass es mehr technische Möglichkeiten gibt, als aktuell genutzt werden. Der Fokus liegt idealerweise auf englischsprachigen Inhalten, damit auch ausländische Studierende angeworben werden können, die dann im besten Fall für ein Präsenzsemester nach Deutschland kommen und im Anschluss daran hier in den Beruf einsteigen. Eigene Portale könnten beispielsweise im deutschen Aushängefach Ingenieurwissenschaften von den TU9-Universitäten aufgebaut werden. Auch die großen Onlinelernplattformen werden mehr und mehr zu internationalen Aushängeschildern für Bildungs- und Forschungsstärke, daher müssen Hochschulen hier vertreten sein. Zur Wiederbelebung der Mobilität nach dem Ende der Pandemie sollten deutsche Hochschulen und ihre Partnerhochschulen im Ausland zusätzliche Plätze für Auslandssemester an Nachholerinnen und Nachholer vergeben. Finanzielle Mittel könnten sowohl für die Aufenthalte selbst als auch für den administrativen Mehraufwand zur Verfügung gestellt werden. Das Angebot sollte sich sowohl an hiesige Studierende richten, die ins Ausland gehen wollen, als auch an Bildungsausländer, die nach Deutschland kommen möchten.
  • Hochschulen und Unternehmen sollten gemeinsam Programme wie ein "Erasmus on the job" aufbauen, damit auch Berufseinsteiger Auslandserfahrung sammeln können, die während des Studiums keine Gelegenheit dazu hatten
    Zusätzlich zum neuen EU-Programm ALMA, in dem junge Menschen ohne Ausbildung oder Arbeitsplatz Berufserfahrung im Ausland sammeln sollen, sollte auch ein "Erasmus on the job" aufgebaut werden. Diese Möglichkeit, Auslandserfahrungen zu sammeln, könnte beispielsweise über ein Auslandspraktikum an einer ausländischen Zweigstelle des Arbeitgebers oder eines anderen Unternehmens realisiert werden. Über ein finanzielles Förderprogramm werden die Kosten für die Unternehmen abgefedert. Auch denkbar sind Aufbau- oder Zusatzstudiengänge im Ausland, die einen Mehrwert für den Arbeitgeber in der Heimat mit sich bringen. Die Vermittlung könnte eine internationale Plattform übernehmen und die "Erasmus Young Professionals" bekommen vertraglich die Zusicherung, dass sie nach Abschluss des Programms in ihren alten Job zurückkehren können. Unternehmen haben den Vorteil, dass ihre Angestellten wertvolle Auslandserfahrungen sammeln, die sich in der langfristigen Karriere auszahlen.

SCHRITTE IN DIE RICHTIGE RICHTUNG

  • Young Universities for the Future of Europe (YUFE): In der YUFE-Allianz haben sich zehn forschungsstarke Universitäten und vier nicht akademische Partner aus ganz Europa  zusammengeschlossen, um die innereuropäischen Mobilitätsprogramme für Studierende und Forschende noch einmal deutlich weiter zu denken und zu verbessern. Geplant ist – wie auch von 40 weiteren von der Europäischen Kommission ausgewählten Allianzen – die Gründung einer europäischen Universität, in der die Studierenden und Forschenden an allen Partnerhochschulen gleichzeitig eingeschrieben sind. Das heißt, dass sie entsprechend an allen Hochschulen Kurse belegen können, Prüfungen schreiben und sich anrechnen lassen können sowie auf die zentralen Einrichtungen wie Bibliotheken zugreifen können.
  • Onlinemaster an der University of Pennsylvania via Coursera: Für einen reinen Onlinemaster, der zwischen 16 und 40 Monaten dauert, können sich Studierende über die Plattform Coursera einschreiben. Die Universität bietet für das Programm verschiedene Diskussionsforen, Gruppenprojekte und Onlinechats an. Studierende nutzen diese Kanäle, um sich zum Beispiel zu Lerngruppen zusammenzuschließen und über das Programm und andere Themen auszutauschen.
Oliver Bäte (Foto: www.allianz.com/Wolfgang Stahr)
Foto: www.allianz.com/Wolfgang Stahr

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​Interview im MERTON-Magazin

Der Hochschul-Bildungs-Report 2020 ist eine Initiative von