Fokusthema: Internationale Bildung in Zeiten digitalen Wandels
Die Covid-19-Pandemie hat die Hochschulen vor enorme Herausforderungen gestellt. Lehre, Forschung und Hochschulverwaltung mussten digital gedacht und umgesetzt werden. In Rekordzeit gelang es, eine funktionierende digitale Alternative zum analogen Studium anzubieten: In der Regel erfolgte die Umstellung flächendeckend innerhalb von nur 30 Tagen und wurde von Studierenden insgesamt als positiv bewertet.
Die internationale Mobilität von Studierenden und Forschenden war ganz besonders von der Covid-19-Pandemie betroffen. Im Sommersemester 2020 ging die Zahl der internationalen Studienanfängerinnen und -anfänger (1. Hochschulsemester) in Deutschland um fast 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr zurück und lag nur noch bei 22.830 (Statistisches Bundesamt 2021). Auch das Auswärtige Amt vermeldete einen überdeutlichen Rückgang der im Ausland beantragten Visa für einen Studienaufenthalt in Deutschland: 2019 waren es weltweit noch 72.243 Anträge, 2020 nur noch 43.722 — ein Minus von knapp 40 Prozent. Viele Auslandsvertretungen stellten zeitweise überhaupt keine entsprechenden Visa mehr aus.
Der Deutsche Akademische Auslandsdienst (DAAD) schätzte im Juni 2020, dass bereits rund 80.000 ausländische Studierende Deutschland aufgrund der Coronakrise verlassen hatten. Im Sommersemester 2020 haben laut DAAD 52 Prozent der Hochschulen Austauschprogramme teilweise oder ganz gestrichen. Auch die Zahl der deutschen Studierenden und Forschenden, die einen Studien- beziehungsweise Forschungsaufenthalt im Ausland wahrnehmen, ging pandemiebedingt stark zurück (DAAD).
Wie geht die Entwicklung nach den Erfahrungen der Coronakrise nun weiter? Aus heutiger Sicht werden vor allem drei Trends die internationale Bildung langfristig beeinflussen: Auslandssemester in Präsenz werden wieder an Bedeutung gewinnen, mit starkem Fokus auf interkulturellem Austausch. Die fachliche Internationalisierung wird durch die Digitalisierung und damit einhergehenden zusätzlichen Formaten gestärkt. Darüber hinaus gewinnen EdTechs, speziell Onlinelernplattformen, an Stellenwert und werden im Zusammenspiel mit den Hochschulen neue Synergien ermöglichen, beispielsweise mittels adaptiver Lernprogramme, die den Lehrenden eine Sicht darauf geben, bei welchen Inhalten eine Vertiefung notwendig ist.
Der klassische Auslandsaufenthalt wird nach der Covid-19-Pandemie eine Renaissance erleben. Ein Indiz dafür: Trotz einer Bereitschaft von über 50 Prozent der europäischen Universitäten, digitale Auslandssemester ihrer Studierenden im Sommersemester 2020 anrechnen zu lassen, haben zumindest in Deutschland nur 1,5 Prozent aller Erasmus-Studierenden ein digitales Auslandssemester angetreten. Die Gründe hierfür sind individuell, aber viele Studierende möchten lieber "die besondere Erfahrung" vor Ort machen und hoffen auf ein baldiges Ende der Pandemie.
Was für deutsche Studierende im Ausland gilt, gilt auch für ausländische Studierende in Deutschland. Der Studienaufenthalt hierzulande gibt ihnen einen Einblick in die deutsche Kultur und die Möglichkeit, ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Dies ist unter anderem für die Fachkräfterekrutierung von zentraler Bedeutung. Insbesondere im MINT-Bereich ist der deutsche Arbeitsmarkt auf ausländische Studierende angewiesen, die sich nach dem Studium in Deutschland dazu entscheiden, hier auch den Berufsstart zu wagen. Viele der internationalen Studierenden sehen ihre Zukunft in Deutschland: 70 Prozent planen nach ihrem Studienabschluss in Deutschland zu bleiben, 41,1 Prozent können sich sogar vorstellen, fünf Jahre und länger zu bleiben. Wenn weniger ausländische Studierende nach Deutschland kommen, sinkt daher auch die Zahl derer, die hier ihren Berufsstart wagen.
Hochschulen haben den durch die Covid-19-Pandemie herbeigeführten Digitalisierungsschub auch für die Internationalisierung des fachlichen Austauschs genutzt. So boten fast drei Viertel der Hochschulen ihren internationalen Studierenden die Möglichkeit eines Fernstudiums mit Onlineveranstaltungen an. Auch die meisten der sich speziell an internationale Studierende richtenden Unterstützungsmaßnahmen wie Welcome-Veranstaltungen und/oder Visaberatungen waren digital zugänglich. Dadurch konnte auf fachlicher Ebene ein internationaler Austausch sichergestellt werden.
Insbesondere beim internationalen Forschungsaustausch war die Umstellung auf digitale Formate erfolgreich. Noch nie war es so leicht, eine Expertin oder einen Experten aus Übersee für einen Fachvortrag in eine Vorlesung oder auf eine Konferenz einzuladen. Die Zahl der internationalen Vorlesungssäle ist gestiegen, auch die Curricula sind internationaler geworden.Internationale Forschungskonferenzen brachen Teilnehmerrekorde. Für Gruppen, die bisher unterrepräsentiert waren, verbesserten sich durch digitale Angebote die Teilnahmemöglichkeiten. In einer "nature"-Umfrage sprachen sich 74 Prozent aller einbezogenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für eine Fortführung digitaler Konferenzen nach der Covid-19-Pandemie aus.
Die positiven Erfahrungen mit digitalen Formaten werden Hochschulen mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu bewegen, den Einsatz digitaler Tools zu verstärken. Denkbar sind beispielsweise "gemischte" Hörsäle an zwei Standorten mit Interaktion zwischen den Studierendengruppen. Möglich wäre auch, in Curricula Inhalte ausländischer Universitäten einzubauen – quasi Ausland light direkt verfügbar im Heimatland. Dabei ermöglicht die Digitalisierung nicht nur ein größeres Angebot an fachlicher Expertise – sie erlaubt auch erhebliche Einsparungen bei Zeit, Kosten und natürlichen Ressourcen.
EdTechs, die sich auf Online-Lernplattformen spezialisiert haben, profitieren von der Covid-19-Pandemie. Die Nutzerzahlen dieser EdTechs, die für jedermann zugängliche Onlinekurse anbieten, stiegen nach Schätzung von Class Central, einem Suchportal für Onlinekurse, zwischen 2019 und 2020 um 50 Prozent an. Und zwar – exklusive Zahlen des chinesischen Marktes – von 120 auf 180 Millionen. Auch das Funding für EdTech-Start-ups ist in Europa seit 2019 deutlich angestiegen, wobei Deutschland noch hinterherhinkt. Der Rest Europas (ohne Deutschland) kommt auf ein jährliches Wachstum seit 2019 von etwa 70 Prozent und ein Volumen von rund 1,4 Milliarden US-Dollar alleine in der ersten Jahreshälfte 2021. Die Wachstumsrate in Deutschland liegt allerdings nur bei 20 Prozent und einem Volumen von 107 Millionen US-Dollar.
Diese Entwicklung lässt sich auch für Onlineplattformen beobachten, die sich hauptsächlich mit tertiärer Bildung befassen. Einzelne Plattformen, wie beispielsweise Coursera – auf der Hochschulen Kurse einstellen –, konnten ebenfalls ein Jahreswachstum von mehr als 50 Prozent verzeichnen (Coursera 2020). Besonders stark stieg die Nachfrage in Wachstumsmärkten wie Asien oder Südamerika. Doch auch in Europa erhöhte sich binnen Jahresfrist die Zahl der Nutzer von Coursera um 48 Prozent auf 13 Millionen im Jahr 2020. Genaue Wachstumszahlen ausschließlich für den deutschen Markt sind nicht verfügbar.
Das Angebot von Online-Lernplattformen im tertiären Bereich wird immer attraktiver und kann eine Alternative zum Auslandssemester oder zumindest eine Ergänzung des Studiums darstellen. Coursera bietet inzwischen mehr als 30 vollwertige Abschlüsse von bekannten internationalen Universitäten wie dem Kings College oder dem Imperial College an. Das ist allerdings eher die Ausnahme als die Regel. Die Mehrheit der online verfügbaren Kurse ist eigenständig oder zusammengefasst in sogenannte Nanooder Micro-Degrees – eine Zusammenstellung einiger weniger Kurse, die keinen vollwertigen Hochschulabschluss darstellen. Dennoch: Einige Partnerhochschulen akzeptieren bereits die Zertifikate der Micro-Degrees und rechnen diese bei einer späteren Immatrikulation in einen passenden Studiengang auf die erbrachten Leistungen an.
Die bisherige Entwicklung in und mit der Covid-19-Pandemie lässt vermuten, dass sich die Themen Internationalisierung und Digitalisierung künftig stärker überschneiden werden. Um die sich bietenden Möglichkeiten zu nutzen, müssen Digitalisierung und Internationalisierung in Zukunft gemeinsam gedacht und entsprechende Synergien genutzt werden.
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