Fokusthema: Der Hürdenlauf auf dem Bildungsweg der Erststudierenden
Die Herkunft entscheidet in Deutschland immer noch maßgeblich über den Bildungserfolg: Kinder aus Akademikerhaushalten überschreiten Bildungsschwellen auch heutzutage leichter als Kinder aus Nichtakademikerhaushalten. Dabei divergieren Bildungserfolge nicht auf allen Stufen des Bildungstrichters gleich stark. Die überproportionale Selektion findet zwischen Grundschule und Studienbeginn statt. Von 100 Nichtakademikerkindern beginnen nur 27 ein Studium; bei Akademikerkindern sind es 79.
Dabei spielen sowohl der Übertritt in die gymnasiale Oberstufe als auch von dieser an die Hochschule eine zentrale Rolle; an beiden Bildungsschwellen halbieren sich in etwa die Zahlen der Nichtakademikerkinder. Unter den Akademikerkindern erreichen hingegen etwa vier von fünf die gymnasiale Oberstufe; wiederum etwa vier von fünf von ihnen beginnen auch ein Studium. Die Studienanfängerinnen und Studienanfänger, die eine nichtgymnasiale Hochschulberechtigung erhalten, machen bei den Nichtakademikerkindern 22 Prozent und bei den Akademikerkindern neun Prozent aus.
Seit der letzten Erhebung haben sich die Übergangsquoten zwischen Grundschule und Hochschule für Akademiker- wie Nichtakademikerkinder um fünf Prozentpunkte beziehungsweise sechs Prozentpunkte verbessert. Die Bildungschancen bleiben trotzdem ungleich verteilt. Während der Anteil der Nichtakademikerkinder in der Grundschule etwa drei Viertel der Kinder entspricht, beträgt er an der Hochschule etwas weniger als die Hälfte.
Lesehilfe: 27 von 100 Nichtakademikerkindern beginnen mit einem Studium, elf von 100 Nichtakademikerkindern erwerben den Mastertitel, zwei den Doktortitel
* In der Stufe zwischen Studienanfänger und Bachelorabsolventen ändert sich die Berechnungsgrundlage.
Quelle: Middendorff et al. 2017, Kracke et al. 2018, Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020, DZHW 2019, Statistisches Bundesamt 2021,
ISTAT-KOAB 2021, Konsortium Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2021
Ist der Schritt an die Hochschule geschafft, gleichen sich die Erfolgsquoten von Nichtakademikerkindern und Akademikerkindern allerdings deutlich an. 76 Prozent aller Nichtakademikerkinder, die sich an Hochschulen eingeschrieben haben, absolvieren das Bachelorstudium; ihnen stehen 82 Prozent aller eingeschriebenen Akademikerkinder gegenüber. Bei der Promotion besteht mittlerweile nur noch ein Unterschied von vier Prozentpunkten: Der Anteil aller Nichtakademikerkinder, die promovieren, hat sich auf zwei Prozent verdoppelt. Bei Akademikerkindern sind es sechs Prozent. Nichtakademikerkinder liegen beim Übergang zur Promotion mit einer Quote von 17 Prozent noch vor den Akademikerkindern. Das häufig bemühte Narrativ, dass Nichtakademikerkinder in den ersten Jahren an der Hochschule überfordert sind und dann das Studium abbrechen, wird durch die Datenlage also nur bedingt bestätigt.
Die zahlreichen Bemühungen im Rahmen des "Qualitätspakts Lehre" die Studieneingangsphase zu verbessern, könnten hier Früchte getragen haben. Laut Hochschullehrenden wurden hierdurch die individuellen Unterstützungsbedarfe stärker in den Fokus gerückt und lernunterstützende Programme zeigten in den Augen von etwa drei Viertel der Projektleitungen eine hohe oder sehr hohe Wirksamkeit.
Die Covid-19-Pandemie droht die kleinen Erfolge der vergangenen Jahre wieder rückgängig zu machen. Nichtakademikerkinder sind stärker von unzureichender digitaler Infrastruktur, reduzierten Lernzeiten und zunehmenden Finanzierungsschwierigkeiten betroffen.
Die Covid-19-bedingte zeitweise Umstellung auf Homeschooling führte zu einer deutlichen Verringerung der Lernzeit von Schülerinnen und Schülern. Laut einer Studie des ifo Instituts halbierte sich die durchschnittliche tägliche Lernzeit von 7,4 auf 3,6 Stunden. Jugendliche hatten so signifikant mehr Zeit für passive Tätigkeiten wie Fernsehen, Computer- und Handyspielen oder die Beschäftigung mit sozialen Medien. Nichtakademikerkinder verbrachten eine Stunde mehr pro Tag mit diesen Tätigkeiten, was befürchten lässt, dass die Covid-19-Pandemie die Bildungsungleichheit in Deutschland verstärkt hat.
Auch im Hochschulalltag wurden Nichtakademikerkinder vor zusätzliche Herausforderungen gestellt. Viele Erststudierende haben wenige (beziehungsweise keine) Bezugspersonen, die studiert haben. Für sie ist die Interaktion mit anderen Studierenden und Lehrpersonal umso wichtiger. Eine Studie des Stifterverbandes und McKinsey von 2020 hat gezeigt, dass es 69 Prozent der befragten Studierenden an sozialen Kontakten infolge der Covid-19-bedingten Onlinelehre mangelt – eine besondere Hürde für Nichtakademikerkinder, die im Hochschulalltag auf den Austausch mit erfahreneren Studierenden angewiesen sind. Dies führt in der Praxis oftmals zu Informationsdefiziten und mentalen Barrieren: Erststudierende verlieren den Anschluss und fühlen sich nicht zugehörig.
Neben den sozialen Herausforderungen müssen sich viele Erststudierende zudem mit der oft herausfordernden Finanzierung des Studiums auseinandersetzen. Nur 15 Prozent der jungen Menschen aus Arbeiterfamilien können sich bei der Studienfinanzierung gänzlich auf ihre Eltern verlassen. Ein Nebenjob ist für sie existenziell zur Abdeckung der Lebenshaltungskosten. 40 Prozent aller Studierenden haben durch Covid-19 jedoch ihren Nebenverdienst verloren – ein Umstand, der viele Erststudierende in eine unsichere Lage gebracht hat und durch staatliche Maßnahmen nicht komplett verhindert werden konnte.
Der Übergang von der weiterführenden Schule zur Hochschule ist von zentraler Bedeutung für den Bildungserfolg von Nichtakademikerkindern. Um diesen Übergang weiter zu erleichtern, müssen vier Hürden überwunden werden.
Um die Chancengerechtigkeit im deutschen Bildungssystem zu verbessern, können zu allen Abschnitten des Bildungsweges – und sogar davor – unterstützende Maßnahmen getroffen
werden. Mentale Barrieren, Informationsdefizite, Kompetenznachteile und Finanzierung spielen dabei zu unterschiedlichen Zeitpunkten eine unterschiedlich starke Rolle.
SCHRITTE IN DIE RICHTIGE RICHTUNG
In der Vielfalt liegt eine große Stärke – wenn wir sie richtig nutzen
Henkel-Chefin Simone Bagel-Trah war in Deutschland die erste Frau an der Aufsichts-Spitze eines Dax-Konzerns. Ein Gespräch über die Bedeutung von Diversity für Unternehmen, über die Schwierigkeiten der chancengerechten Bildung – und darüber, was sie selbst über Brennpunktschulen gelernt hat.
Interview im MERTON-Magazin