Acht Ziele für die Bildungspolitik

Stifterverband und McKinsey beobachten mit dem Hochschul-Bildungs-Report die Entwicklung des deutschen Hochschulsystems in der Dekade 2010 bis 2020. Für die ersten fünf Jahre liegen nun die statistischen Zahlen vor, und eine Halbzeitbilanz ist möglich.

Der Hochschul-Bildungs-Index zeigt, dass sich das deutsche Bildungssystem grundsätzlich in die richtige Richtung entwickelt. Es wird internationaler, gerechter, durchlässiger und heterogener. Der Index zeigt jedoch auch: Der Wandel hin zu einem digitalen, flexiblen und berufsorientierten System ist noch lange nicht geschafft. Schwerpunkte sollten auf den Ausbau von Fähigkeiten und Kenntnissen im Umgang mit digitalen Technologien, der Förderung von Auslandsmobilität und Weiterbildung, der Verbesserung der Praxisorientierung im Studium sowie der gezielteren Unterstützung von Frauen, Nichtakademikerkindern und Flüchtlingen liegen. Bund, Länder und Hochschulen sollten – auch in Kooperation mit Unternehmen – in den kommenden vier Jahren vor allem die folgenden acht Ziele in der Hochschulbildung verfolgen.

 

1. Mehr Informatiklehrer ausbilden

Derzeit beträgt der Anteil der Lehramtsstudierenden, die Informatik als erstes, zweites oder drittes Studienfach belegen, nur 1,6 Prozent an allen Lehramtsstudierenden. Für die Einführung eines Wahlfaches Informatik und Programmieren in Sekundarstufe I und II wären 4.000 zusätzliche Informatiklehrer nötig. Für die Einführung eines Pflichtfaches Informatik von der Grundschule bis zur Sekundarstufe II nach britischem Modell wären es sogar rund 24.000.

  • Bund-Länder-Pakt zur Informatiklehrerausbildung: Hochschulen, die bereits heute Lehramtsstudiengänge in Informatik anbieten, sollten eine einmalige Kapazitätserhöhung erhalten, um mehr Lehrer ausbilden zu können. Die Länder sollten sich im Gegenzug verpflichten, mehr Informatiklehrer einzustellen, um eine Kopplung zwischen Lehrerausbildung und -einstellung zu erreichen.
  • Parallel muss die IT-Infrastruktur an Schulen durch einen Digitalpakt deutlich ausgebaut werden (Breitbandausbau, Computerausstattung).

 

2. Datenanalysekompetenzen in allen Disziplinen sichern: Data Science an Hochschulen ausbauen

Gemessen an Vorreitern wie den USA haben sich deutsche Hochschulen bislang nur langsam auf dem Themenfeld Big Data bewegt. An der Columbia University in New York wurde beispielsweise bereits 2012 das interdisziplinäre Data Science Institut ins Leben gerufen, das allen Studierenden der Hochschule grundlegende Datenkenntnisse vermittelt. In Deutschland hingegen gab es Anfang 2017 lediglich 23 Studiengänge mit einer expliziten Spezialisierung auf Big Data und Advanced Analytics.

  • Einrichtung von Data-Science-Education-Programmen für die Bachelorstudiengänge an Hochschulen, die grundlegende Datenanalysefähigkeiten für alle Fächer vermitteln und an denen alle Studierenden teilnehmen sollten
  • Gezielte Kooperationen von Hochschulen und Unternehmen bei der Vermittlung von Datenanalysekompetenzen, beispielsweise durch sogenannte Hackathons, das sind kollaborative Software- und Hardwareentwicklungsveranstaltungen

 

3. Mehr Studierende für einen Auslandsaufenthalt gewinnen

Die Mobilitätsquoten deutscher Studierender sind zwar im europäischen Vergleich hoch, dennoch sollten sie insbesondere bei den immobileren Studierendengruppen, unter anderem Erstakademikern, Lehramtsstudierenden und MINT-Studierenden, erhöht werden.

  • Studierende, die aus unterschiedlichen Gründen eine vergleichsweise niedrige Mobilitätsquote aufweisen, sollten gezielt angesprochen und mit passenden Stipendienprogrammen, Informations- und Beratungsleistungen unterstützt werden.
  • Die Möglichkeit von Auslandspraktika sollte weiter gestärkt werden. Dazu bedarf es der Bereitstellung von Praktikumsplätzen im Ausland auch durch deutsche Unternehmen und eine enge Zusammenarbeit von Hochschulen und Unternehmen, insbesondere den Career Service Centers.

 

4. Ausweitung und Flexibilisierung des Angebotes an Quartärer Bildung fördern

Trotz vielfältiger Förderprogramme von Bund und Ländern ist Deutschland im Bereich der Weiterbildung und des lebenslangen Lernens an Hochschulen im internationalen Vergleich immer noch eher Nachzügler als Vorreiter.

  • Weiterbildende Bachelorstudiengänge sollten in allen Bundesländern von allen Hochschulen unabhängig von ihrer Trägerschaft angeboten werden können. Derzeit ist dies in den meisten Bundesländern, unter anderem Nordrhein-Westfalen und Hessen, gesetzlich verboten. In Baden-Württemberg haben Hochschulen seit 2014 die Möglichkeit, weiterbildende Bachelorstudiengänge anzubieten.
  • Hochschulen sollten stärker als bisher nachfrageorientierte Weiterbildungsangebote entwickeln, die kurz, flexibel und onlinebasiert sind, zum Beispiel in Form von Micro-Degrees. Micro-Degrees sind Zertifikatskurse, welche akkumuliert zu einem Masterabschluss führen können.

 

5. Praxiswissen und Berufsfeldorientierung bei Studierenden stärken

Die Integration von Anwendungs- und Praxisbezügen in die Lehre hat sich aus Sicht der Studierenden in den vergangenen Jahren nicht verbessert, sondern insbesondere an Universitäten in einigen Aspekten sogar verschlechtert. Nur jeder dritte Studierende an Universitäten ist mit der Vermittlung von Praxiswissen
zufrieden, an Fachhochschulen ist es jeder zweite.

  • Theorie und Praxis müssen im Studium viel früher miteinander verknüpft und die Berufsfeldorientierung stärker berücksichtigt werden. Hierzu bedarf es – insbesondere in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an Universitäten – einer flächendeckenden Anwendung und Erweiterung bislang eher selektiv verwendeter Lehr-/Lernformate, die Anwendungsbezüge und Praxiserfahrungen ermöglichen. Langfristig sollte dadurch der Praxisbezug integraler Teil einer jeden Fächerkultur werden.
  • Begleitend dazu sollten Hochschulen individuelle Kompetenzportfolios und -coachings anbieten. Das sind offene Formate zur individuellen, berufsorientierten Weiterentwicklung parallel zum Studium, welche die Berufsorientierung und die Selbststeuerungsfähigkeit der Studierenden erhöhen. Ein Beispiel dafür ist das Kompetenzportfolio der Universität Konstanz, das auf vier Säulen basiert und persönliche und berufliche Kompetenzen abbildet.

 

6. Chancengerechtigkeit durch lebensnahes BAföG und Weiterführung des Hochschulpakts sichern

Die Chancengerechtigkeit des deutschen Hochschulsystems hat sich insgesamt in den vergangenen Jahren nur langsam verbessert. Eine Hochschulzugangsberechtigung erwerben bereits nur etwa halb so viele Nichtakademiker- wie Akademikerkinder. Danach hört die soziale Selektion nicht auf, wie unsere Analysen zeigen: Nur acht von 100 Nichtakademikerkindern erwerben den Master gegenüber 45 Kindern aus Akademikerhaushalten. Jedes zehnte Akademikerkind, aber nur jedes 100. Arbeiterkind erwirbt den Doktorgrad.

  • Das BAföG sollte in den kommenden Jahren noch stärker an die Diversität der Studierenden und die unterschiedlichen Studienformen angepasst werden. Ein besonderes Augenmerk ist dabei auf die Anforderungen der Gruppe der über 30-jährigen Studierenden und der akademischen Weiterbildung zu richten.
  • Der Chancenpool wird kleiner, wenn wir die Zahl der Studienplätze nicht aufrechterhalten. Alle Voraussagen gehen von dauerhaft 100.000 Studienanfängern mehr als in dem Jahr 2005 aus, die weiterhin über Hochschulpaktmittel finanziert werden müssen.

 

7. Bildungspotenzial der Flüchtlinge nutzen

Das Gesamtpotenzial von Flüchtlingen, die in dem Jahr 2020 an deutschen Hochschulen studieren könnten, liegt nach Berechnungen von Stifterverband und McKinsey bei 80.000 bis 110.000 Flüchtlingen. Allerdings können fehlende Sprachkenntnisse, gesundheitliche Probleme und finanzielle Hürden die Aufnahme eines Studiums verhindern, sodass nicht das gesamte Bildungspotenzial genutzt werden kann. Werden diese Hinderungsfaktoren nicht ausreichend adressiert, werden in dem Jahr 2020 nur zwischen 32.000 und 40.000 Flüchtlinge an einer deutschen Hochschule eingeschrieben sein.

  • Da die Motivation vieler Flüchtlinge in den ersten Monaten nach ihrer Ankunft in Deutschland besonders hoch ist, sollte die Prozessdauer von der Einreise bis zur Aufnahme eines Studiums durch Ausbau und Förderung von studienvorbereitenden Sprach- und fachlichen Kursen an Hochschulen verkürzt werden.
  • Die richtige Verortung von Flüchtlingen im Bildungssystem sollte durch eine vergleichbare Erfassung von Kompetenzen (zum Beispiel durch TestAS, Onset, DSH, TestDAF) gekoppelt an eine frühzeitige Bildungsberatung sichergestellt werden.

 

8. Frauen schon an der Hochschule auf eine spätere Karriere vorbereiten

Frauen sind bis zum Studienabschluss überproportional erfolgreich. Im späteren Berufsleben schaffen sie es jedoch deutlich seltener als Männer, Führungspositionen einzunehmen. Vor allem Unternehmen stehen in der Pflicht, Frauen ihren Fähigkeiten entsprechend zu fördern. Aber auch Hochschulen können eine Schlüsselrolle spielen, um Frauen besser auf Karrieren in Wirtschaft (und Wissenschaft) vorzubereiten:

  • Die Attraktivität der MINT-Fächer für Frauen sollte durch Förderprogramme und attraktive Studienangebote weiter gesteigert werden, da diese Fächer die Voraussetzungen für viele Karrieren in der Industrie schaffen.
  • Eine verstärkte Unterstützung bei der Karriereplanung sollte zudem durch einen Ausbau von Karriereberatung, Netzwerkveranstaltungen und Verstärkung der Angebote zur persönlichen Weiterentwicklung als Leistungen der Career Service Centers speziell für Frauen erfolgen.
  • Außerdem sollten Hochschulen noch stärker die Auslandsmobilität von Frauen fördern, da Auslandsaufenthalte zu einer Stärkung des Selbstbewusstseins, der Selbstwirksamkeit und der Unabhängigkeit und damit zu einer Entwicklung wichtiger Eigenschaften von Führungskräften beitragen können.

Der Hochschul-Bildungs-Report 2020 ist eine Initiative von